Im Rahmen seines Urteils vom 14.12.2021 in der Rechtssache V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“[1] hatte der EuGH erstmals zu entscheiden, ob ein Unionsbürger von einem Mitgliedstaat aufgrund der Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV verlangen kann, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates festgestellte Abstammung eines Kindes von zwei Elternteilen gleichen Geschlechts anzuerkennen. Die Frage nach einer unionalen Anerkennungspflicht im Abstammungsrecht bejaht der EuGH im Ausgangspunkt. So schreibt er seine Linie zum Namens- und Eherecht[2] fort. Wie weit die Pflicht allerdings im Einzelnen reichen wird, lässt die Entscheidung unausgesprochen offen.
I. Der zugrundeliegende Sachverhalt
In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um die Bulgarin V.M.A., die seit 2015 mit einer Britin in Spanien wohnte. 2018 schlossen sie die Ehe und brachten 2019 eine Tochter zur Welt. Die spanischen Behörden registrierten die Tochter als Kind beider Frauen. V.M.A. beantragte unter Vorlage der spanischen Geburtsurkunde die Ausstellung einer bulgarischen Geburtsurkunde. Diese ist erforderlich, um sich ein bulgarisches Identitätsdokument ausstellen zu lassen. Ein solches Dokument benötigte die Familie wiederum, um sich frei in der Union bewegen zu können.
Das bulgarische Recht kennt allerdings nur verschiedengeschlechtliche Ehen. Dementsprechend weist eine bulgarische Geburtsurkunde lediglich einen Vater und eine Mutter aus. Die Behörden forderten V.M.A. auf, zu erklären, wer die leibliche Mutter[3] ihrer Tochter sei. Als die Angabe unterblieb, verweigerten die Behörden die Ausstellung. Hiergegen erhob V.M.A. Klage. Das erkennende Gericht legte dem EuGH das Verfahren zur Vorabentscheidung vor. Im Wesentlichen[4] sind die Vorlagefragen darauf gerichtet, ob das Unionsrecht einen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, eine Geburtsurkunde, die zwei Personen gleichen Geschlechts als Eltern ausweist, für ein Kind auszustellen, dessen Geburt von den Behörden eines anderen Mitgliedstaates mit entsprechendem Inhalt bereits bescheinigt wurde.[5]
Der EuGH erkennt eine solche unionale Anerkennungspflicht für das Abstammungsrecht erstmalig an, soweit es um die Ausübung der „aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte“[6] geht.
II. Zur Herleitung der Anerkennungspflicht
Ausgangspunkt dieser Anerkennungspflicht ist die Freizügigkeit, die Art. 21 Abs. 1 AEUV den Unionsbürgern zusichert. Art. 21 Abs. 1 AEUV schützt nach dem EuGH über die unmittelbare Bewegung und den Aufenthalt im Unionsgebiet hinaus das Recht sowohl im Aufnahmemitgliedstaat, als auch bei Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen und mit den Familienangehörigen zusammen zu leben.[7] Bemerkenswert ist, dass sich der EuGH nicht zum zugrunde liegenden Familienbegriff verhält. Dieser dürfte im Grunde demjenigen der übrigen primärrechtlichen Verbürgungen, wie etwa der Art. 7, 2. Var. und 9, 2. Var. GRCh, entsprechen.[8] Jedenfalls dort aber, wo ein Abstammungsverhältnis nach dem Recht des registrierenden Aufenthaltsmitgliedstaates besteht, existiert ein von Art. 21 Abs. 1 AEUV geschütztes normales Familienleben. Nach dem EuGH verpflichtet Art. 21 Abs. 1 AEUV die Mitgliedstaaten dann und soweit zur Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat begründeten Abstammungsverhältnisses, soweit dies nötig ist, um sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit kann das Kind insbesondere mit jedem seiner beiden Elternteile wahrnehmen.[9]
Besonderes Interesse verdient die vom EuGH erörterte Frage,[10] ob die Mitgliedstaaten dieser grundsätzlichen Anerkennungspflicht ihre nationale Identität oder die öffentliche Ordnung entgegenhalten können. Im Ausgangspunkt schützt Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität der Mitgliedstaaten, wie sie in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen ausgeprägt ist. Dass diese nationale Identität allerdings gegen eine unionale Anerkennungspflicht in Stellung gebracht werden kann, erkennt der EuGH nicht an. Diese zwinge die Mitgliedstaaten nicht dazu, in ihrem nationalen Recht gleichgeschlechtlichen Paaren die Elternschaft zu ermöglichen. Sie bestehe nur, soweit das Kind primär- und sekundärrechtliche Rechte ausübe.[11] Im Übrigen stehe es den Mitgliedstaaten nur offen, sich auf ihre nationale Identität zu berufen, sofern sie dadurch keine Grundrechte der GRCh verletzten.[12] Der EuGH erteilt damit Versuchen der Mitgliedstaaten, die Definitionshoheit für die nationale Identität für sich selbst zu beanspruchen,[13] eine Absage. Vor dem Hintergrund des Vorrangs des Unionsrechts[14] ist dies nur konsequent. Dass das Familienrecht, in dem das politische und gesellschaftliche Selbstbild der Mitgliedstaaten seinen Ausdruck findet und das von pluralen nationalen Auffassungen gekennzeichnet ist, zwar grundsätzlich Teil der nationalen Identität ist, wird man kaum bestreiten können.[15] Der Hinweis des EuGH, nach dem das Abstammungsrecht der Mitgliedstaaten an sich unangetastet bleibe, da Art. 21 Abs. 1 AEUV nur für die Ausübung von im Unionsrecht begründete Rechte eine Anerkennungspflicht begründe, überzeugt aber. Im Übrigen sei auf Folgendes hingewiesen: Je weiter im Bereich des Familienrechts in die nationale Identität hineingegriffen wird, desto eher dürften Grund- und Menschenrechte des Kindes und der Eltern[16] es den Mitgliedstaaten verwehren, sich mit Erfolg auf Art. 4 Abs. 2 EUV zu berufen.
Auch wenn der EuGH eine aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Anerkennungspflicht auf die Ausübung im Unionsrecht begründeter Rechte beschränkt, kann sie in der Sache weitreichende Folgen haben. Denn schon wenn ein Unionsbürger mit der Nichtanerkennung seiner abstammungsrechtlichen Beziehungen durch seinen Herkunftsmitgliedstaat rechnen muss, kann ihn dies von der effektiven Wahrnehmung seiner Freizügigkeit abhalten.[17] Das wird etwa bei einem Blick auf die weitreichende unterhalts- und erbrechtliche Absicherung, die eine rechtliche Eltern-Kind-Beziehung gewährt, deutlich.[18] Schon die Aussicht auf ein hinkendes Statusverhältnis kann die Inanspruchnahme der Freizügigkeit rechtlich erheblich erschweren. Der EuGH lässt jedenfalls unausgesprochen offen, wie weit die durch Art. 21 Abs. 1 AEUV vermittelte Anerkennungspflicht im Detail reicht. Will man Art. 21 Abs. 1 AEUV wie beschrieben ausdehnen, läge es jedenfalls nahe, Anerkennungspflichten jedenfalls dann zu verneinen, wenn die Beteiligten nicht in einer hinreichenden Nähebeziehung zum registrierenden Aufnahmemitgliedstaat stehen.[19]
Schließlich bleibt die Frage nach der Umsetzung unionaler Anerkennungspflichten im deutschen nationalen IPR und IZVR. Oftmals wird man schon über die Anknüpfung an das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB zu einer Anwendung des Rechts des registrierenden Aufnahmemitgliedstaats gelangen. Sollte einmal die zeitliche Komponente[20] nicht erfüllt sein, könnte man über eine weite Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts ein unionsrechtskonformes Ergebnis erzielen. Daneben wäre es ebenso möglich, die behördliche Registrierung als anerkennungsfähige „Entscheidung“ im Sinne des § 108 Abs. 1 FamFG einzuordnen.[21] Diese Abweichung vom üblichen Verständnis der Entscheidung[22] wäre vor dem Hintergrund des Art. 21 Abs. 1 AEUV geboten. Nur sofern es im Einzelfall möglich sein sollte, sich nach Art. 4 Abs. 2 EUV auf die nationale Identität zu berufen, wäre dann eine Anwendung des ordre public nach Art. 6 S. 1 EGBGB bzw. § 109 I Nr. 4 FamFG möglich, soweit sich nicht schon die unionsrechtskonforme Auslegung erübrigen würde.
III. Zusammenfassung
Der EuGH setzt seine Entscheidungslinie zu den aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgenden Anerkennungspflichten konsequent fort. Ein unionales Anerkennungsprinzip im Familienstatusrecht nimmt immer mehr Form an. Mitgliedstaatliche Handlungsspielräume werden dadurch empfindlich beschnitten. Dies muss man mit Blick auf die gesellschaftliche Brisanz des Familienrechts nicht unbedingt begrüßen.[23] Sofern man die Prämissen des EuGH teilt, hat man dieser Entwicklung allerdings wenig entgegen zu setzen.[24] Entscheidend wird sein, ob der EuGH seine großzügige Linie fortsetzt und schon die Gefahr eines hinkenden Statusverhältnisses an sich als Beeinträchtigung der durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleisteten Freizügigkeit ansehen wird.
Joshua Kohler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Privat- und Prozessrecht der Georg-August-Universität Göttingen (Prof. Reuß).
[1] EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456.
[2] Zum Namensrecht etwa EuGH, Urt. v. 14.10.2008, Grunkin und Paul, C-353/06, ECLI:EU:C:2008:559, BeckRS 2008, 71059; Urt. v. 2.6.2016, Bogendorff von Wolffersdorff, C-438/14, ECLI:EU:C:2016:401, BeckRS 2016, 81096 und zum Eherecht EuGH, Urt. v. 5.6.2018, Coman, C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, BeckRS 2018, 10159 = FamRZ 2018, 1063 (m. Anm. Dutta).
[3] Zu den verschiedenen Formen der Elternschaft im vorliegenden Fall de Groot, EU law and the mutual recognition of parenthood between Member States: the case of V.M.A. v Stolichna Obsthina, 2021, S. 3.
[4] Ausführlich wiedergegeben bei EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 32.
[5] Vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 36.
[6] EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 57.
[7] EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 47. Vgl. zu den sog. Rückkehrer Fällen auch Calliess/Ruffert/Kuth, 6. Aufl. 2022, AEUV, Art. 21 Rn. 5.
[8] Näheres zum Familienbegriff der GRCh bei Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, GRCh, Art. 9 Rn. 6; Marauhn/Böhringer, in Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 23 Rn. 19-23.
[9] Vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 49.
[10] Bei EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 53.
[11] EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 57.
[12] EuGH, Urt. v. 14.12.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008, BeckRS 2021, 38456 Rn. 58.
[13] In diese Richtung Generalanwalt beim EuGH (Kokott), Schlussantr. v. 15.4.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:296, BeckRS 2021, 7253 Nr. 72 f. Zustimmend Berner, JZ 2021, 1147, 1148 m.w.N. und Brießmann, https://www.abstammungsrecht.eu/aline-briessmann-in-vielfalt-geeint-schlussantraege-im-verfahren-c-490-20/, zuletzt abgerufen am 7.1.2022.
[14] Begründet durch EuGH, Urt. v. 15.7.1964, Costa/ENEL, C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66, BeckRS 1964, 105086 Rn. 45.
[15] Generalanwalt beim EuGH (Kokott), Schlussantr. v. 15.4.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:296, BeckRS 2021, 7253 Nr. 77-79.
[16] Allgemein zu diesen Gernhuber/Coester–Waltjen, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, § 5 Rn. 1-16 und ausführlich zum Abstammungsrecht Reuß, Theorie eines Elternschaftsrechts, 2018, S. 192-220.
[17] Vgl. Generalanwalt beim EuGH (Kokott), Schlussantr. v. 15.4.2021, V.M.A./Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C-490/20, ECLI:EU:C:2021:296, BeckRS 2021, 7253 Nr. 64; Michl, https://verfassungsblog.de/verwandtschaft-zum-zwecke-der-freizugigkeit/, zuletzt abgerufen am 7.1.2022.
[18] Näheres bei Reuß, Theorie eines Elternschaftsrechts, 2018, S. 134-136.
[19] So etwa Coester–Waltjen, IPRax 2006, 392, 398; Gössl, IPRax 2018, 376, 381.
[20] Zu dieser v. Bar/Mankowski, IPR II, 2. Aufl. 2019, § 4 Rn. 966-969; MüKoBGB/v. Hein, 8. Aufl. 2020, EGBGB, Art. 5 Rn. 154-158.
[21] Berner, JZ 2021, 1147, 1148 f.
[22] Dutta/Jacoby/Schwab/Heiderhoff, FamFG, 4. Aufl. 2022, § 108 Rn. 4 und näher Reuß, Theorie eines Elternschaftsrechts, 2018, S. 505-509.
[23] Vgl. Reuß, Theorie eines Elternschaftsrechts, 2018, S. 508 f.
[24] Entsprechende Überlegungen stellt Dutta, FamRZ 2018, 1067, 1068 an.