Michael Rapp: Eine in Abwesenheit vorgenommene gerichtliche Feststellung der Vaterschaft eines Mannes verstößt gegen Art. 8 EMRK, wenn ihm anschließend Rechtsschutz gegen diese Vaterschaftsfeststellung versagt bleibt


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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Urteil vom 14. Juli 2014 (Application no. 2641/06) festgestellt, dass es gegen Art. 8 EMRK verstößt, wenn die Vaterschaft gerichtlich in Abwesenheit des vermuteten Vaters festgestellt und ihm anschließend der Rechtsschutz verweigert wird. Er unterstreicht außerdem die Bedeutung eines DNA-Tests für die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft.

1. Sachverhalt

Der Kläger klagte vorliegend gegen die in seiner Abwesenheit vorgenommene gerichtliche Feststellung seiner Vaterschaft, sowie gegen die anschließende Versagung von Rechtsschutz gegen diese Vaterschaftsfeststellung.

Im Jahr 2002 klagte die Kindesmutter vor dem städtischen Gericht von Sofia mit dem Ziel, die Vaterschaft des Klägers erneut herzustellen.[1] Jedoch war es dem Gericht nicht möglich den potentiellen Vater zu laden, da er angeblich unter der gerichtsbekannten Adresse nicht mehr zu erreichen war. Daraufhin wurde der Kläger durch Publikation im Staatsanzeiger geladen, was jedoch ebenso fruchtlos blieb. Infolgedessen bestellte das Gericht einen von Amts wegen hinzugezogenen Anwalt zur Interessenvertretung des potentiellen Vaters, der mit diesem ebenfalls nie Kontakt hatte. Auf der Grundlage zweier Zeugenaussagen erklärte das Gericht den Kläger zum biologischen und damit rechtlichen Vater des Kindes. Außerdem sprach es dem Kind einen Unterhaltsanspruch gegen den Kläger zu. Dieser erfuhr von dem Urteil im Jahr 2004. Dagegen legte der Kläger Rechtsmittel zum Obersten Kassationsgericht ein, welches das Verfahren des städtischen Gerichts von Sofia jedoch nicht beanstandete. Sodann wandte sich der Kläger mit einer Beschwerde gegen die in seiner Abwesenheit vorgenommene gerichtliche Feststellung seiner Vaterschaft, sowie gegen die anschließende Versagung von Rechtsschutz gegen diese Vaterschaftsfeststellung an den EGMR.

2. Entscheidung des EGMR

a. Vorbringen der Behörden

Von staatlicher Seite wurde argumentiert, dass der Kläger den nationalen Vorschriften gemäß geladen worden war und es deshalb den Behörden nicht angelastet werden könne, dass der Kläger nicht bei der Verhandlung erschien. Darüberhinaus sei der Kläger gesetzlich dazu verpflichtet gewesen, die Behörden über einen Wechsel seines Wohnortes zu informieren. Außerdem sei eine Unterbrechung bzw. Verzögerung des Prozesses aus Gründen des Kindeswohls nicht vertretbar gewesen. Der Kläger hätte ferner damit rechnen müssen, dass die Kindesmutter die Vaterschaft wiederherstellen will, nachdem er deren Nichtigkeit erreicht hatte. Zuletzt seien seine Interessen durch den gerichtlich bestellten Anwalt dahingehend gewahrt geblieben, dass seine prozessualen Rechte an seiner statt wahrgenommen werden konnten.

b. Vorbringen des Antragstellers

Dagegen brachte der Kläger vor, dass die Vaterschaftsfeststellung in seiner Abwesenheit durchgeführt wurde, das Gericht keine Anstalten gemacht hatte einen DNA-Test zu Beweiszwecken durchzuführen und dass somit die Vaterschaftsfeststellung alleine auf Zeugenbeweisen beruhe.

c. Entscheidungsbegründung des Gerichtshofs

Eingangs stellt der Gerichtshof fest, dass die rechtliche Vaterschaft von der biologischen abweichen kann. Diesbezüglich sei dem Staat ein Beurteilungsspielraum über die hier zu verortenden Fallgruppen gegeben. Dieser Beurteilungsspielraum dürfe allerdings nur soweit gehen, dass eine angemessene Achtung des Privatlebens des Einzelnen gewährleistet ist, Art. 8 EMRK.[2] Außerdem sei besonders zu beachten, dass die EMRK nicht nur theoretische Ideale vorgebe, sondern den Anspruch habe, praktisch wirksame und effektive Rechte zu garantieren.[3] So sei im Lichte des Rechtes auf ein faires Verfahren eine „Waffengleichheit“ herzustellen. [4] Dieses Prinzip würde in seinem Wesenskern angetastet, wenn eine Prozesspartei nicht über eine Verhandlung in Kenntnis gesetzt würde,[5] insbesondere wenn es um die Feststellung der Sachlage und um subjektive Wahrnehmungen derselben geht.[6] Somit sei es allen Gerichten aufgegeben, den Parteien die Möglichkeit zu geben, ihren Fall und die rechtliche Position darzulegen. In entsprechenden Fällen müssten die Interessen des Kindes in besonderer Weise Berücksichtigung finden.[7]

Somit habe sich der Kläger substantiell nicht gegen ein aktives Tun, sondern vielmehr gegen ein zweifaches Unterlassen des Staates gerichtet, denn zum einen haben die Behörden es versäumt den Kläger in angemessener Weise zu laden und ihm zum anderen den Rechtsschutz verwehrt. Der Gerichtshof stellt dabei fest, dass die bulgarischen Behörden zwischen den Interessen des unehelichen Kindes, der Kindesmutter und dem potentiellen Vater abzuwägen hatten. Hier sei es nicht die Aufgabe des Gerichtshofes diese Gewichtung zu überprüfen. Vielmehr müsse entschieden werden, ob das Verhalten der bulgarischen Behörden im Lichte des Art. 8 EMRK bestehen könne.[8] Somit sei im Kern die Frage zu entscheiden, ob aus dem Recht auf Achtung der Privatsphäre des Klägers folgt, dass dieser persönlich am Verfahren der Vaterschaftsfeststellung zu beteiligen gewesen wäre. Zur Entscheidung dieser Frage gibt der Gerichtshof zu bedenken, dass:

  1. Die Beamten lediglich einmalig versucht hatten den Kläger an der gerichtsbekannten Adresse anzutreffen und aus diesem Fehlschlag geschlossen hatten, dass dieser an der angegebenen Adresse nicht mehr wohnhaft sei.
  2. Die Behörden keine Nachforschungen beim Einwohnermeldeamt angestrengt hatten um herauszufinden, ob es eine andere Adresse des Klägers gäbe.
  3. Es nicht bewiesen werden konnte, dass der Kläger für mehr als 30 aufeinanderfolgende Tage nicht unter der gerichtsbekannten Adresse wohnhaft war.

Vorliegend sei es so, dass die Vaterschaftsfeststellung im Wesentlichen auf den Zeugenaussagen der Tante und der Cousine der Kindesmutter und eben gerade nicht auf einen DNA-Test gestützt wurde. Dabei sei ein DNA-Test zum fraglichen Zeitpunkt die präziseste Methode zur Feststellung der biologischen Vaterschaft gewesen. Die Aussagekräftigkeit eines DNA-Tests überwiege damit alle denkbaren anderen Beweismethoden in wesentlichem Ausmaß. Hätte der Kläger also die Möglichkeit gehabt an der Verhandlung teilzunehmen und einem DNA-Test zugestimmt, dann hätte der Prozess zu einem endgültigen, fundierteren Urteil kommen können. Die Erfolglosigkeit der eingelegten Rechtsmittel am Obersten Kassationsgericht habe diesen Zustand weiter vertieft.

Dabei sei es unerheblich, in welchem Stadium dieses gesamten Verfahrens die Behörden aktiv anders hätten handeln müssen. Jedoch hätte das Recht auf Schutz des Privatlebens in effektiver Weise sichergestellt werden müssen, konkret indem dem Kläger eine Möglichkeit zur Teilnahme am Prozess und zur Durchführung eines DNA-Tests hätte gegeben werden müssen. Insbesondere deshalb, weil eine persönliche Beteiligung des Klägers an dem Verfahren so wesentlich für die Qualität des Resultats desselben gewesen wäre. Auch aus diesem Grund ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass durch den ex officio Anwalt eine angemessene, effektive Interessenvertretung gewährleistet werden konnte.

Aus diesen Gründen sei der Gerichtshof zu der Überzeugung gelangt, dass im vorliegenden Fall der Kläger nicht in einem für eine angemessene Interessenwahrnemung ausreichendem Maß in den Prozess miteinbezogen worden sei. Infolgedessen gelangten die bulgarischen Behörden nicht zu einem gerechten Interessenausgleich zwischen dem Recht des Klägers auf den Schutz seines Privatlebens, dem Recht des Kindes auf einen rechtlichen Vater und das der Mutter auf Kindesunterhalt.

Somit wurde der Kläger durch das staatliche Handeln in seinem Recht aus Art. 8 EMRK verletzt.

3. Bewertung

Die vorliegende Entscheidung des EGMR vertieft die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage ob und in wie weit die aus der EMRK garantierten Menschenrechten neben ihrer Abwehrdimension auch einen status positivus im Sinne von „positive obligations“, also grundrechtsschützenden Handlungspflichten des Staates bereitstellen. Um den status positivus des Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall heranzuziehen, bietet es sich – wie dies der EGMR getan hat – an, daneben auch Art. 6 EMRK in die Bewertung miteinfließen zu lassen. Schließlich geht es vorliegend um die Frage nach Art und Umfang der Beteiligung des potentiellen Vaters an einem Verfahren zur Feststellung einer Vaterschaft. Insofern ist die Rechtsfrage eigentlich eine, die aus der Perspektive des Fair-Trial-Prinzips und des Anspruchs auf rechtliches Gehör betrachtet werden muss. Letztlich werden diese Grundsätze auch herangezogen und fließen in die Entscheidung maßgeblich mit ein, formal lösst der Gerichtshof den Fall jedoch unter Berücksichtigung der positiven Dimenson des Art. 8 EMRK. Der EGMR sah hier die Bemühungen des städtischen Gerichts von Sofia im Hinblick auf die Ladung des Beschwerdeführers als unzureichend an. Dies alleine hätte jedoch wohl nicht dazu geführt, dass der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK angenommen hätte. Ausschlaggebend war vielmehr, dass die minimalen Bemühungen des Gerichts im Bezug auf die Ladung sich in einem Urteil niederschlugen, welches dem EGMR unbillig erschien. Die letztlich tragende Überlegung erscheint hier zu sein, dass den Interessen der Beteiligten mit einem DNA-Test am besten gedient sei. Insbesondere dann, wenn dieser Aufschluss über das wahre Verhältnis zwischen rechtlicher und biologischer Verwandtschaft zu geben verspricht.


[1] Der Kläger war zwischen 1993 und 1999 nach einer Vaterschaftsanerkennung des vaterlosen Kindes dessen Vater gewesen.

[2] Mit Verweis auf: Mizzi v. Malta, no. 26111/02, § 113, ECHR 2006-I (extracts); Shofman v. Russia, no. 74826/01, § 45, 24 November 2005; Kroon and Others v. the Netherlands, 27 October 1994, § 40, Series A no. 297-C.

[3] Mit Verweis auf: Multiplex v. Croatia, no. 58112/00, § 44, 10 July 2003.

[4] MIt Verweis auf: Dombo Beheer B.V. v. the Netherlands, 27 October 1993, § 33, Series A no. 274.

[5] Mit Verweis auf: Zagorodnikov v. Russia, no. 66941/01, § 30, 7 June 2007.

[6] Mit Verweis auf: Salomonsson v. Sweden, no. 38978/97, § 39, 12 November 2002; Kovalev v. Russia, no. 78145/01, § 37, 10 May 2007.

[7] Mit Verweis auf: X v. Latvia [GC], no. 27853/09, § 102, ECHR 2013; A.L. v. Poland, no. 28609/08, § 72, 18 February 2014.

[8] vgl.: Hokkanen v. Finland, 23 September 1994, § 55, Series A no. 299-A; Shofman v. Russia, no. 74826/01, § 35, 24 November 2005; Kalacheva v. Russia, no. 3451/05, § 34, 7 May 2009; Mikulić v. Croatia, no. 53176/99, § 59, ECHR 2002-I.

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