Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Eine Orientierungsschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloher Verlagshaus 2013, ISBN 978-3-579-05972-3
Unser gesellschaftliches Verständnis von Ehe und Familie befindet sich im Wandel. Bereits ein Blick auf die Statistiken beweist dies. Seit Jahren sind die Zahlen der Eheschließungen in Deutschland rückläufig. Waren es im Jahre 1950 noch 750.452, sind 2011 bundesweit nur noch 377.816 Eheschließungen verzeichnet worden. Gleichzeitig nehmen die Ehescheidungen in Deutschland zu, 1950 waren nur 84.674 rechtskräftige Scheidungen zu verzeichnen, 2011 schon 187.640 (siehe Statistisches Bundesamt). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Familie als Lebensform ausgedient hat. Die Zunahme von alternativen Familienformen, etwa von Patchwork-Konstellationen, Alleinerziehenden-Haushalten oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (mit und ohne Kinder) zeigt, dass Familie auch weiterhin gewollt ist, nur eben in anderen personalen und geschlechtlichen Zusammensetzungen (vgl. so auch Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, S. 3f.). Auch an der sogenannten kumulierten Überlebenskurve (siehe dazu Rauscher, Familienrecht, S. 17) lässt sich ein Wandel unseres Familienbildes ablesen. So nimmt die Scheidungsbereitschaft bei Ehepaaren zu, je näher der Zeitpunkt der Eheschließung an der heutigen Gegenwart liegt. Dies zeugt von einem stärker an privatautonomen Entscheidungen ausgerichteten Familienbild. Das eheliche Band ist für die Familie nicht mehr konstitutiv, von ihren Mitgliedern auch nicht mehr so häufig gewollt.
Maßgeblichen Einfluss auf unser gesellschaftliches Familienverständnis nehmen heute immer noch die Kirchen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat mit der o.g. Orientierungsschrift nun sein Familienverständnis neu orientiert.
Ausgangspunkt
Der eingangs beschriebene soziologische Befund bildet auch den Ausgangspunkt der Orientierungsschrift. Die Autoren stellen einführend fest, dass
„aktuelle Trends in Familienleben und Partnerschaftsverhalten auf[fallen]: die spätere Familiengründung und der Rückgang von Eheschließungen, die Vervielfältigung von Familienformen, das Auseinanderdriften der sozialen Lebenslagen und die steigende Kinderarmut, schließlich gibt es mehr Familien mit Migrationshintergrund“ (S. 20).
Auch der Rat der EKD sieht in dieser Entwicklung nicht das Ende der Familie als solche. Er anerkennt zwar, dass „[a]ngesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen wie sinkender Geburtenraten, dem Wandel der Altersstruktur, veränderter Geschlechterverhältnisse, steigender Scheidungs- und Trennungsraten, weltweiter Wanderungsprozesse, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit sowie risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen, mit denen sich Familien (je nach ihrem gesellschaftlichen Ort) derzeit auseinandersetzen müssen“ (S. 23) traditionelle Familienbilder ins Wanken geraten. Gleichwohl sei eine Kontinuität mit Blick auf das Gründen und den Drang der Zugehörigkeit zu einer Familie festzustellen (S. 29).
Wie Familie im Einzelnen gelebt werde, so die Autoren, sei abhängig von historischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen, wozu auch die zeit- und systembedingten Vorstellungen von Geschlechterrollen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie usw. gehörten (S. 29-30).
Familienbild der EKD
Das neu orientierte Familienbild der EKD greift diese soziologischen Befunde auf. Es lässt das klassische rollen- und geschlechtertypische Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kind) hinter sich und orientiert sich stärker an den strukturfunktionalen Elementen einer Familie. Dazu gehört nach dem Verständnis der Autoren, dass sich eine Familie durch eine dauerhafte, auch generationenübergreifende Verbindung mehrerer Menschen auszeichnet, die miteinander Verantwortungs- und Fürsorgebeziehungen verbindlich eingehen (S. 22, 26). Der einzelne Mensch als Familienmitglied lebe in der Familie einerseits seine autonome Eigenständigkeit, er sei aber gleichzeitig angewiesen auf die Unterstützung der übrigen Familienangehörigen, die die Eigenständigkeit des Einzelnen erst ermögliche (S. 20-22). Nach dem Verständnis der Autoren ergibt sich daraus eine Ambivalenz von Autonomie und Angewiesenheit, die das familiale Innenverhältnis bestimme. Diese strukturfunktionalen Merkmale finden sich im Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie wieder, sie können ferner in anderen gelebten Familienformen präsent sein. Hierbei ist beispielsweise an Patchwork-Konstellationen, Beziehungen von Adoptiveltern zu ihren Adoptivkindern, von Pflegeeltern zu ihren Pflegekindern, an getrennten Orten lebende Familien aber auch an gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder des einen Partners gemeinsam erziehen, zu denken, so die Orientierungsschrift (S. 22).
Dieses Familienverständnis untermauern die Autoren theologisch, indem sie den Ausgangspunkt im 2. Buch Mose, 2, 18 suchen, dort heißt es: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“. Menschsein gestalte sich von Anfang bis zum Ende in familiären Beziehungen (S. 61). Die bisherige starke Betonung der Stiftung und Ordnung des Ehebandes bei der Auslegung der Bibel verleite aber dazu zu übersehen, dass die Ehe nicht die einzige in der Bibel existente Familienform sei (S. 56). So fänden sich Patchwork-Konstellationen etwa bei Abraham, Sarah und Hagar mit ihren Kindern (S. 56) aber auch Jesus selbst lebe mit seinen Jüngern eine ganz andere Familienform (S. 60). Gekennzeichnet seien auch diese Familienformen stets von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der Gemeinschaft und von gegenseitiger Angewiesenheit (S. 61-62).
Diese zukunftsoffene und moderne funktionale Sichtweise ist zu befürworten, jedenfalls aus dem Blickwinkel eines jungen evangelischen Wissenschaftlers. Besonders bemerkenswert ist, dass die Autoren der Orientierungsschrift nicht an diesem Punkt verharren sondern sich auch mit der besonders kontrovers diskutierten Konstellation gleichgeschlechtlicher Familiengestaltungen auseinandersetzen. So heißt es:
„Deutet man die biblischen Aussagen, in denen Homosexualität als Sünde gekennzeichnet wird (3. Mose 18,22; 20,13; Röm 1,26-27), als zeitlos gültig, kann man zu der Meinung kommen, eine homosexuelle Partnerschaft sei mit einer heterosexuellen keinesfalls vergleichbar. Allerdings gibt es auch biblische Texte, die von zärtlichen Beziehungen zwischen Männern sprechen. Fragt man jenseits dieser einzelnen Textstellen nach dem, was menschliche Beziehung in Gottes Schöpfung ausmacht, dann ist zu konstatieren: Der Mensch wird von Anfang an als Wesen beschrieben, das zur Gemeinschaft bestimmt ist (1. Mose 2,18). Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als ≫Grundton≪ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht“ (S. 66).
Versteht man die Bibel in dem letztgenannten Sinne, so sind homosexuelle Partnerschaften, die als durch Treue und Verlässlichkeit gekennzeichnete verbindliche Gemeinschaft eingegangen und gelebt werden, der Ehe auch aus theologischer Sicht gleichwertig. Zu diesem Schluss kommen auch die Autoren der Orientierungsschrift (S. 66), in dem sie auch in der Frage der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften die strukturfunktionalen Elemente des Familienbildes in das Zentrum rücken.
Besonders zu befürworten ist, dass die Orientierungsschrift auch das oftmals pauschal geäußerte Argument, homosexuelle Paare könnten gemeinsam keine Kinder zeugen und seien daher gegenüber heterosexuellen Paaren nicht als gleichwertig anzusehen (so etwa Rauscher, Familienrecht, S. 33 Rn. 38), ausräumt, denn: Der Sinn menschlichen Seins insbesondere in familiären Beziehungen erschöpft sich nicht in der Reproduktion allein sondern umfasst auch das Leben von Fürsorge- und Verantwortungsbeziehungen, was auch homosexuelle Paare heute aktiv tun. In der Orientierungsschrift heißt es hierzu:
„Manches heterosexuelle Paar entscheidet sich bewusst gegen Kinder oder bleibt aus anderen Gründen kinderlos und gestaltet seine Generationenbeziehungen dennoch schöpferisch und verantwortlich. Dass homosexuelle Paare gemeinsam keine Kinder zeugen können, kann deshalb kein Grund sein, ihnen den Segen zu verweigern. Tatsachlich leben viele homosexuelle Paare als Familie mit Kindern aus früheren Beziehungen oder mit Kindern, die durch eine Samenspende gezeugt wurden. Es zählt zu den Stärken des evangelischen Menschenbilds, dass es Menschen nicht auf biologische Merkmale reduziert, sondern ihre Identität und ihr Miteinander in vielfältiger Weise beschreibt.“ (S. 66-67)
Was hier so klingt, als ermögliche die EKD damit nun auch homosexuellen Paaren einen der Ehe ähnlichen Ritus, ist freilich noch nicht gelebte Wirklichkeit. Vereinzelt sind bereits Segnungen homosexueller Partnerschaften Praxis, einen der Eheschließung gleichwertigen Ritus kennt die EKD aber noch nicht. Die Orientierungsschrift verschweigt dies freilich nicht. So heißt es selbstkritisch:
„Für eine gelingende (Wieder-)Herstellung von Verbindlichkeit in den vielfältigen Familienformen und den sich im Laufe einer Familienbiografie mehrfach verändernden Konstellationen stehen oft noch keine angemessenen kirchlichen Rituale zur Verfügung“ (S. 26f.)
Es ist daher zu hoffen, dass die aufgefundene funktionale Gleichwertigkeit von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Familienformen sich künftig auch in den Riten den EKD niederschlagen wird.
Zusammenfassender Ausblick
Die EKD präsentiert mit ihrer Orientierungsschrift ein erfrischend modernes Familienbild. Sie löst sich von überkommenen Rollen- und Familienverständnissen und wählt einen strukturfunktionalen Ansatz zur Neuorientierung ihres Familienverständnisses. Eine Familie zeichnet sich durch eine dauerhafte, auch generationenübergreifende Verbindung mehrerer Menschen aus, die miteinander Verantwortungs- und Fürsorgebeziehungen verbindlich eingehen. Dieser strukturfunktionale Ansatz führt letztlich auch zu einer Anerkennung der Gleichwertigkeit klassischer (Ehe) und moderner Familienformen (gleichgeschlechtliche Partnerschaft).
Dieser moderne Ansatz ist erfreulich. Er trägt hoffentlich dazu bei, dass sich auch in der Familienpolitik etwas bewegt, die sich in der letzten Zeit eher durch Konservierungsbemühungen (Herdprämie, Salamitaktik bei der rechtlichen Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft) denn durch zukunftsorientierte Gestaltung ausgezeichnet hat.
3 Antworten zu “Ein Familienbild der Moderne?”
Das sieht sehr gut aus, vom Inhalt mal abgesehen
sorry, zu früh geklickt, noch einmal vom Inhalt abgesehen, der exakt meine Meinung widerspiegelt.
[…] Die Studie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich die Familienleitbilder in Deutschland gewandelt haben (S. 6), das “Spektrum der Familienformen hat sich erweitert”, so die Autoren. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass nicht mehr nur die klassische Kleinfamilie, bestehend aus “Vater-Mutter-Kind” als Familie angesehen wird sondern auch andere Familienformen wie Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, nichteheliche Lebensgemeinschaften als Familienformen gesellschaftlich weit überwiegende Anerkennung genießen. Das verwundert nicht sondern spiegelt die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung wider. Beispielsweise hat auch die Evangelische Kirche in Deutschland ihr Familienbild kürzlich reformiert (dazu siehe in diesem Blog). […]