Das auf die Abstammung anwendbare Recht und das Günstigkeitsprinzip – eine unendliche Geschichte?


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Das OLG Karlsruhe hat am 2.2.2015 (Az. 11 Wx 65/14) einen weiteren Beitrag zur Streitfrage der Ausfüllung des Günstigkeitsprinzips im Rahmen der Anwendung des Art. 19 Abs. 1 EGBGB geliefert. Führen die drei eigenständigen Anknüpfungsalternativen zur Vaterschaft unterschiedlicher Männer, bestimmt die ganz überwiegende Meinung das anwendbare Recht nach dem Günstigkeitsprinzip: Dasjenige Recht soll die Abstammung eines Kindes von seinen Eltern bestimmen, das am günstigsten für das Kind ist. Welche Kriterien allerdings für die Feststellung der günstigsten Alternative entscheidend sind, ist in Literatur und Rechtsprechung heftig umstritten. Bislang wird wohl überwiegend vertreten, dass diejenige Rechtsordnung den Ausschlag geben soll, die die Abstammungsbeziehung als erste begründet. Hintergrund ist der Gedanke, dass jedes Kind möglichst schnell einem rechtlichen Vater zugeordnet werden sollte. Das erkennende Gericht verneint allerdings in seiner hier besprochenen Entscheidung ein solches, rein temporales Verständnis des Günstigkeitsprinzips. Es stellt vielmehr auf materielle Kriterien ab, was im Grundsatz zu befürworten ist.

1. Sachverhalt

Im konkreten Fall ging es um die Frage der Vaterschaft für ein in Polen geborenes Kind, das wenige Monate nach der Scheidung der Mutter (2013) geboren wurde. Die Mutter, die ebenso wie der geschiedene Ehemann die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, befindet sich mit dem Kind in Deutschland, wo sie mit einem weiteren Mann, dem angeblichen biologischen Vater des Kindes, zusammenlebt. Dieser besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und hatte im Jahr 2014 die Vaterschaft für das Kind mit Zustimmung der Mutter in Deutschland anerkannt. Das OLG Karlsruhe hatte über die Beurkundung der Vaterstellung im Personenstandsregister zu entscheiden.

2. Entscheidung des Gerichts

Das Gericht führt zutreffend aus, dass aufgrund der Internationalität des Sachverhalts zunächst das auf die Abstammung anwendbare Recht gem. Art. 19 EGBGB zu bestimmen sei. Hiernach, so stellt das Gericht fest, könne alternativ an das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (Art. 19 I 1 EGBGB), oder im Verhältnis zu jedem Elternteil, an das Recht der Staatsangehörigkeit des betreffenden Elternteils (Art. 19 I 2 EGBGB) angeknüpft werden. Somit ergäbe sich für die rechtliche Vaterschaft einerseits die Anwendbarkeit des deutschen (hier lag der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes) und andererseits des polnischen Rechts (Staatsangehörigkeit des früheren Ehemannes der Mutter).

Bei Anwendung des polnischen Abstammungsrechts wäre der geschiedene Ehemann der Mutter als rechtlicher Vater des Kindes anzusehen, da das polnische Recht – wie das früher geltende deutsche Recht – den geschiedenen Ehemann der Geburtsmutter als rechtlichen Vater behandelt, wenn das Kind binnen einer Frist von 300 Tagen nach Beendigung der Ehe geboren wird. Für eine Vaterschaftsanerkennung durch den Lebensgefährten der Geburtsmutter ist nach polnischem Recht damit kein Raum, da die Vaterschaft des früheren Ehemannes der Mutter die Anerkennung der Vaterschaft durch einen anderen Mann sperrt.

Bei Anwendung des deutschen Rechts wäre der anerkennende Lebensgefährte der Mutter als rechtlicher Vater des Kindes anzusehen. Das deutsche Abstammungsrecht kennt eine Zuordnung des früheren Ehegatten der Mutter heute nicht mehr. Damit ist der Weg frei für die Vaterschaftsanerkennung. Vater ist bei Anwendung des deutschen Rechts daher gem. § 1592 Nr. 2 iVm § 1594 BGB der die Vaterschaft anerkennende Lebensgefährte der Mutter.

Das OLG hatte somit zu entscheiden, welche der beiden Rechtsordnungen den Ausschlag geben sollte. Das Gericht führt hierzu aus, dass die Entscheidung nach dem Günstigkeitsprinzip zu fällen sei und stellt darauffolgend den Meinungsstand zur Frage der Ausfüllung dieses Prinzips mit Kriterien dar. Das Gericht ist der Ansicht, dass die derzeit wohl herrschende Ansicht, die auf das Prioritätsprinzip abstellt, teils zu ungerechten Ergebnissen führt und somit uU korrekturbedürftig sei. Das Gericht hält es deshalb für sachgerecht, nicht stets den Zeitpunkt der ersten Begründung des abstammungsrechtlichen Verhältnisses über das anwendbare Recht entscheiden zu lassen sondern auch einen späteren Zeitpunkt (konkret den Zeitpunkt der Registereintragung) als für die Günstigkeitsprüfung relevant anzusehen. Ferner sei der Zuordnung des anerkennenden Mannes im Rahmen der Günstigkeitsprüfung der Vorzug vor der „fingierten Vaterschaft des geschiedenen Ehemannes“ zu geben, da die biologische Vaterschaft des anerkennenden Mannes wahrscheinlicher sei als die Vaterschaft des geschiedenen Ehemannes. Das Gericht nennt dies nach Hepting (StAZ 2000, 33, 35) eine abgestufte Günstigkeit, d.h. es betrachtet die Zuordnung des die Vaterschaft anerkennenden (wahrscheinlich) biologischen Vaters als relativ günstiger als die Zuordnung des früheren Ehemannes und orientiert sich damit bei der Günstigkeitsprüfung am Kindeswohl.

3. Bewertung

Der Entscheidung ist im Wesentlichen zuzustimmen. Zu begrüßen ist, dass sich das Gericht von dem starren Abstellen auf das Prioritätsprinzip bei der Günstigkeitsprüfung löst. Die nach allgemeiner Meinung am Kindeswohl orientierte Günstigkeitsprüfung zwingt dazu, faktenintensiv und faktensensitiv die Elemente des einzelnen Falls herauszuarbeiten. Nur wenn alle Elemente des Sachverhalts erforscht und in die Günstigkeitsprüfung eingestellt worden sind, kann eine verhältnismäßige Entscheidung über die Günstigkeit einer Anknüpfungsvariante getroffen werden. Nur dann kann mit Savigny der „Sitz des Rechtsverhältnisses“, die engste Verbindung, die ein Sachverhalt mit einer Rechtsordnung aufweist, ermittelt werden. Der „one size fits all“-Ansatz sollte daher auch im Rahmen des Art. 19 Abs. 1 EGBGB aufgegeben werden.

Das Gericht geht bei dieser Prüfung allerdings nicht weit genug. In die Abwägung der relativen/abgestuften Günstigkeit iSd Wohls des Kindes stellt das Gericht lediglich zwei Kriterien ein: Die schnelle Herstellung der Abstammung zur Sicherung unterhaltsrechtlicher und erbrechtlicher Versorgung (1) und die Zuordnung des Kindes zu seinem (wahrscheinlich) biologischen Vater (2). Keine Relevanz hat in der Erwägung allerdings die Frage der sozialen Bindung des Kindes zu dem die Vaterschaft anerkennenden Mann, obwohl die sozialen Bezugspersonen einen bedeutenden Einfluss auf das Kindeswohl nehmen. Die soziale Elternstellung ist ebenfalls von Art. 6 GG geschützt. Es wäre daher im Lichte einer faktenintensiven Günstigkeitsprüfung wünschenswert gewesen, wenn das Gericht auch diesen Aspekt gewürdigt hätte.

Eine von dieser Einschätzung zu trennende Frage ist jene, ob man dem Günstigkeitsprinzip und der Alternativität der Anknüpfungsvarianten des Art. 19 EGBGB auch weiterhin folgen sollte. Bezweckt die Regelung zwar einen sog. favor filiationis, d.h. die Begünstigung der Zuordnung eines jeden Kindes zu einem rechtlichen Vater, so entstehen durch die Vielgestaltigkeit der Anknüpfungsmomente auch weitreichende Problemstellungen, die zu hinkenden Rechtsverhältnissen führen können. Die Verhinderung hinkender Rechtsverhältnisse ist jedoch auch ein Ziel internationalprivatrechtlicher Regelungen, worauf bei einer Reform des Art. 19 EGBGB Acht gegeben werden sollte. Kritisch ist ferner, dass die Günstigkeitsprüfung mit ihrer Orientierung am Kindeswohl dazu zwingt, materiell-rechtliche Wertungen in das Kollisionsrecht zu integrieren. Materiell-rechtliche Wertungen sind im Kollisionsrecht allerdings nur in Ausnahmefällen (etwa Ordre public, Anpassung) angebracht, denn Aufgabe des IPR ist es nicht einen Fall zu entscheiden, sondern einen Sachverhalt einer Rechtsordnung zuzuweisen, nach deren Bestimmungen der Fall entschieden wird. Diesen Vorwurf müssen sich die Anhänger des am Kindeswohl orientierten Günstigkeitsprinzips gefallen lassen, auch wenn das erkennende Gericht diesen Vorwurf mit dem nicht überzeugenden, rein faktischen Argument, dass man materielle Wertungen prüfen müsse, da das Kollisionsrecht dazu mit dem Günstigkeitsprinzip auffordere, von sich weist. Auch hier ist bei einer Reform des Art. 19 EGBGB zu überlegen, ob sich diese Grundaufgabe des Kollisionsrechts nicht auch ohne die Inkorporierung materiell-rechtlicher Wertungen bewerkstelligen lässt.

In der Literatur wird bereits über eine Reform des Art. 19 EGBGB nachgedacht. Ein jüngster Aufsatz hierzu findet sich in der am 9.7.2015 übergebenen Festschrift für Coester-Waltjen (Siehr, FS Coester-Waltjen, 769), der sehr lesenswert ist. Ob das Günstigkeitsprinzip im Rahmen einer in der Literatur geforderten Reform eine Rolle spielen wird, wird sich zeigen.

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